100 Jahre Oktoberrevolution

Die Tage im Oktober 1917 waren ein Schlüsselereignis im 20. Jahrhundert. Mit der Russischen Oktoberrevolution begann vor 100 Jahren der Siegeszug des Kommunismus. Nicht nur Rosa Luxemburg sagte im Frühjahr 1917 „Ein Fenster hat sich geöffnet“. Viele Menschen erhofften sich durch den fundamentalen Umbruch ein neues, besseres Leben.

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Ein Revival der Idee des Kommunismus

100 Jahre Oktoberrevolution ist ein Datum, an dem nun allenthalben zurückgeblickt wird. Die Überlegungen sind geprägt vom scheinbaren Zusammenbruch des Kommunismus Ende des vergangenen Jahrhunderts. Und viele Beobachter sind erstaunt, dass nun plötzlich wieder eine Art Revival der Idee erfolgt – und das ausgerechnet in Russland, wo die Protagonisten des Kommunismus so viel Leid über die Menschen gebracht haben. Tatsache ist: eine „Vergangenheitsbewältigung“ fand in den ehemals kommunistischen Staaten nie statt.

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In Russland stehen heute noch Tausende Lenin-Denkmäler, und auch Stalin ist wieder von den Toten auferstanden. Nachdem in den Jahren nach 1956, als Chruschtschow mit Stalins Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU abrechnete, Stalin-Denkmäler in ganz Russland abgebaut wurden, werden sie jetzt wieder neu errichtet. In einer Umfrage äußerten sich 46 Prozent der Russen positiv über Stalin – 2012 waren es erst 28 Prozent gewesen. Die Zahl der Russen, die die Massenmorde in der Stalin-Ära als unentschuldbares Verbrechen betrachten, sank in den vergangenen zehn Jahren laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums von 72 auf 39 Prozent. Wladimir Putin bestreitet zwar nicht diese Verbrechen, wendet sich jedoch gegen eine „unnötige Dämonisierung“ Stalins und rechtfertigte den Diktator 2009 mit der Bemerkung: „Was man auch immer sagen mag – der Sieg [im Krieg] wurde erreicht. Niemand kann heute einen Stein auf jene werfen, die das Land zu diesem Sieg führten.“ .

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Stalin hoch im Kurs

Im gleichen Jahr wurde in der Moskauer Metrostation eine alte Inschrift wiederhergestellt, die 50 Jahre zuvor entfernt worden war: „Uns erzog Stalin zur Treue zum Volk, zu Arbeit und Heldentaten regte er uns an.“ Das war eine Strophe aus der Sowjethymne, die Putin in seinem ersten Amtsjahr wieder einführte (allerdings natürlich mit anderem Text).

Nur knapp ein Fünftel der Russen sieht die Oktoberrevolution absolut kritisch. Nostalgie ist dabei nur einer von mehreren Gründen dafür. Natürlich spielen Erinnerungen an die eigene Jugend bei vielen Menschen eine Rolle in ihrer Bewertung der Sowjetzeit. Doch daneben sind es auch höchst rationale Überlegungen: Das zaristische Russland war keineswegs ein Paradies. Während eine verschwindend kleine Menge im Luxus schwelgte, lebten über 80 Prozent der Bevölkerung in bitterer Armut und Unwissenheit. Das agrarisch geprägte Russland war zutiefst rückständig.
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Die guten Seiten der Sowjetunion

Dem hohen Blutzoll zum Trotz sind den Menschen vor allem die Errungenschaften der Sowjetunion in Erinnerung geblieben: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ ist ein berühmtes Zitat Lenins. Für viele Russen waren elektrisches Licht und Mechanisierung der Produktion tatsächlich leuchtende Wunder, die die Neuzeit einläuteten.

Das Ende der Sowjetunion hingegen ist für viele Russen nicht nur gleichbedeutend mit dem Verlust ihres Weltbilds, sondern auch mit sozialem Absturz. In den 1990er-Jahren schaffte es wieder nur eine kleine Minderheit zu ungeheurem Reichtum, während viele Russen verarmten. Die Gerechtigkeit sei früher größer gewesen, meinen viele. Wohl darum sind zwei Drittel der Russen 100 Jahre nach der Oktoberrevolution eher unentschlossen, wie sie das Ereignis bewerten sollen – auch wenn sie sicher nicht wieder unter Stalin leben wollen.

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Die Feiern in Russland

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Am Tag des Jubiläums gingen dann doch tausende Menschen auf die Straße. In Moskau zogen Kommunisten mit roten Fahnen durch die Stadt und erinnerten an das Datum.

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An dem sogenannten „Marsch linker Kräfte“ nahmen nach Angaben des russischen KP-Chefs Gennadi Sjuganow auch Vertreter aus 80 anderen Ländern teil. Zu sehen waren unter anderem die Flaggen Kubas und das Emblem der italienischen KP. Viele Teilnehmer trugen Porträts des sowjetischen Revolutionsführers Wladimir Iljitsch Lenin und des Diktators Josef Stalin. Der Zulauf zu der Kundgebung war allerdings geringer als von Sjuganow erwartet.

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Der offizielle Kreml hüllte sich mehr oder weniger in Schweigen, doch die Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ durfte sich zum Jubiläum dann doch äußern:

„Der 7. November wurde Große Sozialistische Oktoberrevolution genannt. Im Wortsinn stimmt das natürlich nicht, denn es war nur ein Militärputsch in Petrograd gegen die halbtote Provisorische Regierung, ein Schreckschuss aus der „Aurora“. Doch in der Bedeutung für die Menschheitsgeschichte stimmt alles: Groß, Revolution und sogar sozialistisch – als erste, grundlegende Variante des Sozialismus. In den Dimensionen der Menschheitsgeschichte schuf Lenin das erste globale Alternativprojekt. Das Projekt erwies sich als absoluter Fehlschlag, doch aus solchen Herausforderungen und Antworten, aus Versuchen und Irrtümern besteht die Weltgeschichte.“

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Anlässlich des 100. Jahrestags der Oktoberrevolution haben Russen im ganzen Land Zeitkapseln geöffnet, die ihre Vorfahren vor genau 50 Jahren angelegt hatten. Damals, noch unter dem Eindruck des ersten Flugs von Kosmonaut Juri Gagarin, spielte vor allem das Weltall eine große Rolle. Mehrere Autoren sagten die Besiedelung des Monds oder die erste Mars-Landung voraus. In einer in Sibirien geöffneten Kapsel lautete eine der Zukunftsvisionen: „Ihr führt Gespräche mit anderen, außerirdischen Zivilisationen über wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit.“
Andere Vorhersagen waren deutlich realistischer: Die künftigen Russen würden über Farbfernsehen und Videotelefonie verfügen, hieß es in einer von Schülern in Serow im Ural geöffneten Botschaft. „Wir beneiden euch ein bisschen.“ In einer in Krasnojarsk geöffneten Zeitkapsel fragten sich die Autoren der Botschaft laut der Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“, wie der damals wichtigste Feiertag wohl 2017 begangen werde – natürlich nicht ahnend, dass die Sowjetunion bereits 1991 zerfiel.

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Keine Feier für die Revolte im Kreml

Zur Sowjetzeit war der Jahrestag der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ einer der wichtigsten russischen Feiertage – und wurde an jedem 7. November mit Massenaufmärschen begangen. Nun jährt sich dieses Ereignis, die Geburtsstunde des ersten kommunistischen Staates der Welt, zum 100. Mal. Doch Russlands Staatsführung nimmt das Jubiläum nicht zur Kenntnis: „Warum sollte man das feiern?“, antwortete Dmitri Peskow, der Pressesprecher von Präsident Wladimir Putin Ende Oktober auf eine entsprechende Frage.
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Das offizielle Moskau ignoriert das Jubiläum

Wie schon im Frühjahr, als sich die Februarrevolution – und damit der Sturz der Monarchie – zum 100. Mal jährte, ignoriert das offizielle Russland die historischen Ereignisse in der damals Petrograd genannten Hauptstadt St. Petersburg.

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В Кремле не собираются проводить мероприятий, приуроченных к столетию октябрьской революции, заявил пресс-секретарь президента Дмитрий Песков. «В Кремле каких-то мероприятий по этому поводу не планируется», — цитирует Пескова РИА «Новости».  Отвечая на уточняющий вопрос журналисов о том, предполагалось ли так изначально, пресс-секретарь Владимира Путина отметил, что «никто ни от чего не отказывался».

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Eine Rebellion gegen das Staatsoberhaupt, ein Putsch und schließlich der Umsturz des bestehenden Systems sind im Selbstverständnis des Kremls keine historischen Ereignisse, die eine offizielle Würdigung verdient hätten – ganz im Gegenteil. Vor einem Jahr hatte Wladimir Putin das Revolutionsjahr 1917 als „Tragödie, die praktisch jede Familie in Russland betraf“ bezeichnet.

Nur die Kommunisten feiern

Ein Grund zum Feiern sieht allein die Kommunistische Partei Russlands, die sich als Nachfolger der im Oktober 1917 triumphierenden Bolschewisten betrachtet. Parteichef Gennadi Sjuganow erklärte, der Jahrestag biete Gelegenheit, „die Größe von Lenins Genius und unserer Revolution, die auf dem Planeten eine neue Epoche einleitete“ zu spüren. Die Kommunisten richten deshalb Anfang November das „19. Internationale Treffen Kommunistischer und Arbeiterparteien“ im Taurischen Palast in St. Petersburg aus.

Gefeiert wird der „Tag der Volkseinheit“

Arbeitsfrei ist der Jahrestag schon seit 2005 in Russland nicht mehr. Damals wurde stattdessen der 4. November zum „Tag der Volkseinheit“ mit Feiertagsrang erhoben – zur Erinnerung an die Vertreibung polnischer Besetzer aus dem Kreml durch ein russisches Volksheer. Das geschah allerdings im fernen Jahr 1612. An diesem Datum findet in St. Petersburg seit einigen Jahren ein „Licht-Festival“ statt. Dabei wird die Fassade eines großen historischen Gebäudes als Projektionsfläche für eine Multimedia-Show genutzt.
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Keine politischen Symbole

Diesmal werden die Schauplätze zugleich Symbole der Revolution sein: der Winterpalast, der gegenüberliegende Triumphbogen und der Panzerkreuzer „Aurora“, von dem aus das Signal zum Sturm auf den Winterpalast gegeben wurde. Denn die Stadtverwaltung beschloss, das Revolutionsjubiläum zum Leitthema der diesjährigen Licht-Show zu machen.

Allerdings „ohne politischen Kontext“ – wie es in der Ausschreibung hieß. Man will also weder eine Verherrlichung der Revolution noch eine Aufarbeitung ihrer Irrtümer und Verbrechen – sondern veranstaltet ein buntes 3D-Spektakel, bei dem rote Banner und Bajonette zu folkloristischen Motiven werden.

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Der historische Kontext

Was waren die Kontexte, in denen sich die Revolution entfaltete? Sie waren so heterogen wie die Revolution selbst.

Es gab eine Revolte der Gebildeten gegen die politische Ordnung des zarischen Regimes, eine Erhebung von Bauern und Arbeitern gegen die Gutsherren und die europäischen Eliten, die das Land beherrschten, und es gab eine Revolte der nationalen Bewegungen und Minoritäten gegen die kulturelle Standardisierung und Homogenisierung des Imperiums.

Man könnte die Zahl der Revolten noch vermehren: Revolten von Arbeitslosen, Flüchtlingen und vielen anderen. Diese Revolten ergaben sich aus spezifischen Situationen, und sie waren oftmals nicht miteinander verbunden. Die Untertanen des Zaren sprachen nicht mit einer Sprache. Sie lebten nicht einmal in einer Gesellschaft. Deshalb gab es 1917, als die alte Ordnung zusammenbrach, niemanden, der die Gewalt von einem Ort aus unter Kontrolle bringen konnte.
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Europäische Eliten beherrschen Russland

Seit den Reformen Peters I. im frühen 18. Jahrhundert wurde das Imperium von einer europäisierten Elite beherrscht, die mit den leibeigenen Bauern kulturell nicht mehr verbunden war. Denn das Europäisierungsprojekt hatte die Umerziehung des Adels, nicht der Bauern zum Ziel. Diesen kulturellen Dualismus versuchten die aufgeklärten Bürokraten des Zaren Mitte des 19. Jahrhunderts zu überwinden, um das Imperium in einen modernen Anstaltsstaat nach preußischem Vorbild zu verwandeln.

Die Rolle der Bauern

Die Bauern sollten Teil der Gesellschaft, das Vielvölkerreich eine Staatsnation, der Staat ein moderner Rechtsstaat werden. 1861 wurden die Bauern aus der Leibeigenschaft befreit, wenige Jahre später führte die Regierung in den Städten und ländlichen Regionen kommunale Selbstverwaltungen, unabhängige Gerichte und rechtsstaatliche Verfahren ein. 1874 kam auch die allgemeine Wehrpflicht nach Russland. Doch die Großen Reformen weckten Ansprüche, die nicht erfüllt werden konnten, weil sie die Kluft zwischen der Gesellschaft und den Bauern nicht überwand, sondern sie im Gegenteil erst sichtbar machte.
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Das Ende der Leibeigenschaft

Die Agrarreform des Jahres 1861 beendete das System der Leibeigenschaft in Russland. Aber viele Bauern empfanden das, was die Eliten für Befreiung hielten, als Zumutung. Denn sie erhielten nur einen Teil des Landes zur Nutzung, das sie vor der Befreiung bearbeitet hatten. Für die Bauern gehörte das Land in die Hände jener, die es bearbeiteten. Es war ungerecht, dass der Adel es ihnen vorenthielt. Aus diesem Dilemma gab es schon deshalb keinen Ausweg, weil die Welt der Bauern auch nach Aufhebung der Leibeigenschaft von der Gesellschaft der Besitzenden und Gebildeten getrennt blieb.

Weil es keine staatlichen Institutionen im Dorf gab, die die Aufsichtsfunktionen der Gutsherren hätten ersetzen können, mussten die Bauern selbst dafür sorgen, dass Steuern und Ablösesummen gezahlt, Rekruten ausgewählt und Polizeiaufgaben erfüllt wurden. Alle Bauern hafteten kollektiv für die Aufbringung der Abgaben und durften ihre Dörfer nur mit Erlaubnis der Obrigkeit verlassen. Das System der kollektiven Solidarhaftung warf die Bauern auf sich selbst zurück, es begründete eine egalitäre Sozialordnung und eine rigide Sozialdisziplin, die abweichendes Verhalten unnachsichtig bestrafte. Vor allem aber blieben die Bauern unter sich, sie wurden an das Land gebunden und von der Gesellschaft, in die sie sich integrieren sollten, rechtlich getrennt.

Die Arbeiter werden nicht zu Proletariern

Zwar wanderten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Millionen Bauern auf der Suche nach Arbeit und Auskommen vom Dorf in die Stadt. Aber Russlands Arbeiter wurden in den Städten nicht zu Proletariern. Sie blieben als Bauern dem Lebenszyklus, den Sitten und Gebräuchen und der Sozialdisziplin des Dorfes unterworfen. Denn viele Bauern, die als Wanderarbeiter in die Stadt gekommen waren, kehrten während der Erntezeit und am Ende ihres Arbeitslebens in ihre Heimatdörfer zurück. Auch in den Städten blieben sie unter sich, weil sich ihnen dort nichts bot, was einem Abschied vom Dorf Attraktivität verliehen hätte. Wo sie lebten, gab es keine Infrastruktur, keine Krankenhäuser und Schulen, manchmal auch keine staatlichen Strukturen. Deshalb integrierte nicht die Stadt das Dorf, sondern das Dorf unterwarf die Stadt. So kam es, dass die bäuerliche Konflikt- und Gewaltkultur am Ende auch in den Städten die Oberhand gewann.
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Aus Bauern werden keine Bürger

Unter diesen Umständen scheiterten die Versuche der zarischen Bürokratie, die bäuerliche Bevölkerung zu erziehen, zu disziplinieren und in moderne Staatsbürger zu verwandeln. Die Verwaltung und Rechtsordnung des Zaren war nichts weiter als das Regelwerk einer fremden Kaste von Eroberern, die sich im Leben der Bauern nicht zu Gehör bringen konnte. Auch die Armee des Zaren überwand die kulturelle Kluft zwischen der Gesellschaft und den Bauern nicht. Sie brachte sie vielmehr wie keine andere Institution zum Ausdruck, weil sie die Gebildeten von den Bauern trennte und Soldaten zu Knechten der Offiziere machte.

Kurz: Die Bauern mussten alle Pflichten für eine Gesellschaftsordnung erfüllen, deren Mitglieder sie nicht werden konnten. Man könnte auch sagen, dass die zarische Ordnung eine Apartheidgesellschaft mit Emanzipationsanspruch war.

Die Autokratie verliert ihre Basis

Nicht einmal auf die Loyalität der gebildeten Eliten konnte die Autokratie am Ende noch vertrauen. Denn die Großen Reformen Alexanders II. hatten Hoffnungen im intellektuellen Milieu geweckt, die bitter enttäuscht wurden. Die Funktionsträger in der lokalen Selbstverwaltung, Juristen, Freiberufler, Schriftsteller, Journalisten und Professoren, verlangten, dass die neuen Freiräume auch politisch genutzt werden konnten. Zu solchen Zugeständnissen aber war die autokratische Regierung nicht bereit. Sie allein besaß das Wissen und die Macht, die Bevölkerung zu zivilisieren und zu disziplinieren, und sie brauchte dazu weder die Zustimmung der Untertanen noch die Hilfe der Intelligenzija. Im Gegenteil: Je weiter sich die regierende Kaste vom Volk entfernte, desto größere Freiräume boten sich ihr, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Aber diese Unabhängigkeit war zugleich der Grund für ihre Isolation: eine einsame Kaste von Eroberern in einem fremden Land, die nichts anderes besaß als die Legitimation des Zaren und die Waffen der Armee.

Das Revolutionsjahr 1905

Im Revolutionsjahr 1905, als die russische Armee im Krieg gegen Japan stand, mussten die Minister des Zaren erfahren, was es bedeutete, wenn sich Arbeiter, Bauern, nationale Minderheiten und Bürger gegen die bestehende Ordnung erhoben und es niemanden gab, der die Unruhen militärisch beenden konnte. Nur durch den Einsatz überlegener Gewalt und durch politische Zugeständnisse an die Liberalen gelang es der Autokratie am Ende, die Opposition zu spalten und die moderaten Kritiker der Autokratie aus der Revolutionsfront herauszulösen.
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Denn die bürgerlichen und adligen Eliten hatten die Revolution vor allem als anarchischen, wütenden Gewaltrausch unzivilisierter Massen wahrgenommen. Der Kulturphilosoph Michail Gerschenson brachte diese Erfahrung auf drastische Begriffe:

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„So wie wir sind, dürfen wir nicht nur im Traume an eine Verschmelzung mit dem Volk denken – wir müssen es mehr fürchten als alle Staatsmacht, und wir müssen diese Macht preisen, die uns mit ihren Bajonetten und Gefängnissen allein noch vor der Wut des Volkes schützt.“

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Im Ersten Weltkrieg, als Russland in Chaos und Anarchie versank, Millionen Menschen auf der Flucht waren und am Ende auch die bewaffnete Ordnungsmacht zerfiel, blieben dem Regime keine Auswege mehr. Die Agonie der Autokratie dauerte nur wenige Tage, sie verschwand, und es schien, als hätte es sie niemals gegeben. Das war der Kontext, in dem sich die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 entfalteten. Man könnte auch sagen, dass die Verhältnisse nur jenen eine Chance zum Sieg gaben, die keine Skrupel hatten, sich mit überlegener Gewalt gegen ihre Widersacher durchzusetzen und eine neue Ordnungsmacht zu errichten.
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Die Stunde der Bolschewiki

Die revolutionäre Geschehen des Jahres 1917 brachte sich aus einer Vielzahl von Revolten und Aufständen hervor. Die liberalen Eliten rebellierten gegen die autokratische Ordnung, Arbeiter und Bauern gegen Gutsbesitzer, Fabrikanten und die Gesellschaft von Besitz und Bildung, nationale und religiöse Minderheiten gegen Diskriminierung und Marginalisierung. Das kam nicht zuletzt im Nebeneinander von Provisorischer Regierung und Arbeiter- und Soldatenrat in Petrograd, von Stadtparlamenten und Räten in der Provinz zum Ausdruck, die den Kulturdualismus des alten Russland repräsentierten.

Auf die Armee ist kein Verlass

Niemand konnte sich noch auf die Armee als bewaffneten Arm des Staates verlassen. Denn im Gegensatz zur ersten russischen Revolution widersetzten sich die Bauern-Soldaten nun der militärischen Disziplin. Sie töteten ihre Offiziere und verließen die Armee, um sich an der Verteilung des Gutslandes zu beteiligen. Die Provisorische Regierung konnte die Zersetzung der staatlichen Ordnung nicht abwenden, weil sie nichts unternahm, um das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen. Sie hielt den Zerfall nicht auf, sondern beglaubigte ihn, indem sie die Revolution ins Recht setzte.

Ein unverständliches Programm

Das war die Stunde der Bolschewiki. Wie aber kam es, dass ausgerechnet sie im Chaos der Revolutionswirren den Sieg davontrugen? Sie vertraten ein Programm, dessen Sinn kaum jemand verstand, ihre Partei hatte nur wenige Mitglieder, ihre Führung kam aus der Emigration. Kaum jemand kannte sie, als die Revolution begann. Konstantin Tepluchow, ein liberaler Finanzbeamter aus Tscheljabinsk, vertraute seinem Tagebuch im April 1917 an, aus dem Exil seien Mitglieder einer „neuen Partei“ mit dem Zug in Petrograd eingetroffen. Die bolschewistische Partei hatte keinen Massenanhang, sie vertrat weder die Interessen der Arbeiter noch der Bauern, noch hatte sie Rückhalt an der Peripherie des Imperiums. Sie war eine Partei von russischen und jüdischen Berufsrevolutionären, die mit dem Volk, das sie befreien wollten, nicht verbunden und an der Peripherie des Imperiums nicht verwurzelt waren.

Der Krieg ermöglicht die Revolution

Am Anfang war der Krieg. Denn die Revolution wurde durch den Krieg ermöglicht, und sie vollzog sich unter den Bedingungen des Krieges. Die Bolschewiki verstanden es, sich in diesem Ermöglichungsraum auf angemessene Weise zu bewegen. Es konnte nur obsiegen, wer die Sprache der Straße sprach und wer bereit war, Waffen rücksichtslos einzusetzen. Das war gemeint, als Lenin davon sprach, die Macht habe auf der Straße gelegen und man habe sie nur aufheben müssen. Lenins Konkurrenten aber hatten diese Wahrheit nicht begriffen.

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Als die Provisorische Regierung die Reste der alten Ordnung per Dekret auflöste, beraubte sie sich aller noch verbliebenen Machtressourcen. Noch im Sommer 1917 vertrauten die Liberalen und gemäßigten Sozialisten in der Regierung auf Gesetze und Verfassungen, als die Wirklichkeit sie bereits außer Kraft gesetzt hatte. Sie bestanden darauf, dass nur eine verfassunggebende Versammlung sie dazu legitimieren könne, das Land an die Bauern zu verteilen, die Betriebe in die Hände der Arbeiter zu übergeben und Frieden mit den Mittelmächten zu schließen. Und obwohl sich die nationale Peripherie bereits verselbständigt hatte, sollte über die Zukunft des Vielvölkerreiches nicht in den Regionen, sondern im zukünftigen Parlament entschieden werden. Nur hatte die Revolution der Straße all diese Fragen bereits entschieden.

Die Regierung regiert nicht

Die Provisorische Regierung regierte nicht, sie verwaltete allenfalls die Vorzimmer ihrer Minister, während die eigentliche Macht von der Gewalt auf den Straßen ausging, die niemand, nicht einmal die Revolutionäre in den Sowjets, unter Kontrolle bringen konnte. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre traten im Sommer 1917 in die Provisorische Regierung ein und verloren damit ihren ohnehin geringen Einfluss auf das Geschehen. Ihre revolutionäre Rhetorik widersprach ihrem Handeln, das sich auf Verfassungen und Gesetze berief. Damit untergruben sie selbst ihre Autorität.

Lenin nutzt die Situation

Lenin nutzte diese Situation aus. Er und seine radikalen Gefolgsleute artikulierten den Unmut, die Unzufriedenheit und den Hass der Unterschichten auf die alte Ordnung und die alten Eliten, und es gelang ihnen, sich von den Wogen des Protestes nach oben treiben zu lassen. In der Atmosphäre des Hasses traten die Bolschewiki als Advokaten hemmungsloser Gewalt auf: Der Machokult des Tötens und Mordens, die Primitivität und Bösartigkeit des Vokabulars und nicht zuletzt die Kleidung wiesen sie als Männer der Tat aus. Das ist der eigentliche Grund für ihren zeitweiligen Erfolg, der es ihnen im Oktober 1917 erlaubte, die Macht nicht nur an sich zu reißen, sondern auch die Zustimmung verbitterter und enttäuschter Menschen zu mobilisieren.
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Neue Ordnung durch Terror

Einmal an der Macht, standen die Bolschewiki vor den gleichen Schwierigkeiten wie ihre Vorgänger. Sie beanspruchten die Macht, aber sie besaßen sie nicht. Denn den Bauern war es gleichgültig, wer die Bolschewiki waren und wonach ihnen der Sinn stand, solange diese es ihnen erlaubten, Land zu nehmen und Gutsbesitzer zu vertreiben. „Kaum strecken sich aber die kommunistischen Tatzen nach dem Dorf aus, wird der Bauer unangenehm“, kommentierte die Lyrikerin Sinaida Hippius das, was im zweiten Jahr der Revolution geschah.

Die Bolschewiki verlieren das Vertrauen

Die Freiheitsversprechen, so wie Arbeiter und Bauern sie verstanden hatten, wurden von den Bolschewiki gebrochen. Und weil sie keines der Versprechen einlösen konnten, schmolz die Gefolgschaft rasch dahin. Dabei blieb es nicht. Die Bolschewiki ließen keine Gelegenheit aus, sich neue Feinde zu machen. Sie terrorisierten nicht nur die Angehörigen der alten Elite und Oppositionelle, die sie als Geiseln nehmen und zu Tausenden erschießen ließen. In ihrem Wahn, eine neue Ordnung durch Terror schaffen zu können, unterband Lenins Regime den freien Handel, es bestrafte Händler als Spekulanten, raubte den Bauern das Getreide und schreckte nicht davor zurück, streikende Arbeiter niederschießen zu lassen.

Mit dem Rücken zur Wand

Während des Bürgerkrieges, als sich der Widerstand gegen die Herrschaft der Roten auch militärisch organisierte, standen die Bolschewiki mit dem Rücken zur Wand. Sie waren von Feinden umgeben und wurden der Gewalt nicht mehr Herr, die sie ausgelöst hatten. Und doch entschieden sie den Bürgerkrieg für sich. Wie konnten die Bolschewiki siegen? Warum kam es zu keiner erfolgreichen Erhebung gegen die neuen Machthaber? Hippius gab eine psychologische Antwort: Die Bolschewiki hätten nur überleben können, weil sie angesichts der „schwarzen Unbeweglichkeit“ des Volkes, der Apathie der Hungernden und Elenden, jeden Widerstand mühelos hätten brechen können.

Die Bolschewiki fürchten das Volk

Niemand wusste besser als die Bolschewiki selbst, dass ihre Herrschaft ohne Zustimmung auf unsicherem Grund stand. Sie fürchteten das Volk nicht weniger als ihre Vorgänger in der zarischen Regierung, aber sie hatten weniger Skrupel, sich gegen alle Widerstände mit exzessiver Gewalt durchzusetzen. Man könnte auch sagen, dass es ihre Schwäche war, die sie dazu verleitete, Gewalt immerzu und überall einzusetzen. Nur unter den Bedingungen des Krieges konnte eine solche Strategie erfolgreich sein, weil sie den Handlungsgesetzen des Krieges entsprach. Der Krieg war die Lebensform der Bolschewiki.

Hätte es ihn nicht gegeben, hätten sie ihn erklären müssen, um zu tun, was sie tun mussten. Denn der Bürgerkrieg war ein Vernichtungskrieg, in dem nur siegen konnte, wer den Gegner vollständig auslöschte. So sahen es nicht nur Lenin und Trotzki, die sich mit der militärischen Niederlage der Weißen und der Bauern nicht zufrieden gaben. In ihrer Skrupellosigkeit und Gewalttätigkeit, ihrer Bereitschaft, der Vernichtungsrhetorik Taten folgen zu lassen, waren die Bolschewiki allen Akteuren des Bürgerkrieges überlegen.

Ein Sieg der verbrannten Erde

Ihr Sieg war ein Vernichtungssieg, der verbrannte Erde, materielle und seelische Verwüstungen hinterließ. Sie gewannen nicht, weil sie über das attraktivere politische Programm geboten, sondern weil sie ihren Widersachern als Gewalttäter überlegen waren und weil sich die hungernde und abgestumpfte Bevölkerung apathisch dem Wahnsinn hingab. „Wir leben“, schreibt Hippius, „schon so lange im Strom der offiziellen Worte erdrücken‘, ersticken‘, vernichten‘, zermalmen‘, ausrotten‘, im Blut ertränken‘, ins Grab bringen‘ usw., daß die alltägliche Wiederholung unflätiger Schimpfworte auf uns keinen Eindruck mehr macht.“

Die Bolschewiki profitierten von den Fehlern ihrer Gegner. Die weiße Bewegung war uneinig und zerstritten, ihre Generäle operierten von den multiethnischen Rändern des Imperiums und vertraten die Auffassung, das eine und unteilbare Russland müsse als Zentralstaat wiedererstehen. Den Bauern hatten sie keine attraktive Alternative anzubieten. Solange die Bauern fürchten mussten, dass die Gutsbesitzer zurückkommen könnten, zogen sie die Roten den Weißen vor. Erst nach der Niederlage der Weißen erhoben sich die Bauern gegen die Kommunisten und ihr Terrorregime, denn nun mussten sie die Wiederherstellung der alten Ordnung nicht mehr fürchten. So stand es auch um die nationalen Minderheiten, die sich in den entscheidenden Auseinandersetzungen des Bürgerkrieges auf die Seite der Roten schlugen oder sich neutral verhielten und den Bolschewiki erst im letzten Jahr des Bürgerkrieges entschlossenen Widerstand entgegensetzten.

Die Bolschewiki formen einen Staat

Erst nach dem Ende des Krieges befassten sich die bolschewistischen Führer mit der Frage, wie sie das Imperium verstaatlichen und unter ihre Herrschaft bringen sollten. Mit Gewalt allein konnte dieser Kraftakt nicht gelingen, denn es kam den neuen Machthabern darauf an, die Bevölkerung nicht nur zu unterwerfen, sondern sie auch zu mobilisieren, sie für sich zu gewinnen und „alte“ in „neue Menschen“ zu verwandeln. Zu diesem Zweck mussten sie die Untertanen in ihr Ordnungssystem integrieren und sich ihrer Loyalität versichern. Das geschah 1921, als die Regierung den freien Handel wieder zuließ, berechenbare Steuern einführte, kleinere Industriebetriebe privatisierte und den Terror gegen die Bauern vorläufig einstellte.

Zwei Jahre später kam es zur Neuvermessung und Neustrukturierung des Imperiums, das in nationale Republiken und Gebiete eingeteilt wurde. Die Bolschewiki indigenisierten das Vielvölkerreich, indem sie die einheimischen kommunistischen Eliten am Aufbau des neuen Staates beteiligten und sich auf diese Weise Loyalität erkauften. Aber diese Phase der friedlichen Staatsbildung war nur von kurzer Dauer. Am Ende der 1920er Jahre gelangten Stalin und seine Anhänger in der Parteiführung zu der Einsicht, dass die Neue Ökonomische Politik (NEP) und die Indigenisierung des Imperiums den Kontrollbedürfnissen des Zentrums nicht länger entsprach. Sie hatten die Eigenständigkeit der Bauern und der nationalen Republiken gestärkt und das revolutionäre Umgestaltungsprogramm auf unbestimmte Zeit verschoben.

Der Einsatz von brutaler Gewalt

Die bolschewistische Vision vom neuen Staat konnte nur durch den Einsatz von Gewalt und Terror durchgesetzt werden. So sahen es Stalin und seine Gefolgsleute, und sie griffen auf die Gewalttechniken des Bürgerkrieges zurück, um den vermeintlichen Widerstand der Bauern gegen das Projekt des Sozialismus niederzuwerfen.
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Staatsbildung als Kriegführung – so könnte man auf den Begriff bringen, worin für die Bolschewiki die Essenz des Sozialismus lag. Es waren die Erfahrungen der Revolution und des Bürgerkrieges, die ihnen die Gewissheit gaben, dass der Sieg am Ende den Gewalttätern gehörte. In diesem Sinn war der Stalinismus eine machtvolle Neuinszenierung der Oktoberrevolution und zugleich ihr krönender Abschluss.

Die Bolschewiki zerrissen die dünne Schicht der Zivilisation, die sich in nur einem Jahrhundert über das alte Russland gelegt hatte, sie vernichteten das europäische Russland, seine Eliten und Wertvorstellungen und ersetzten sie durch eine barbarische und maßlose Gewaltherrschaft. Miljukow fand dafür bereits unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkrieges eine einleuchtende Erklärung. Die Revolution sei nicht durch den Import europäischer und sozialistischer Ideen in die Maßlosigkeit getrieben worden. „Denn bei allen der in dieser Revolution aufgestellten ultramodernen Programme, Etiketten und Losungen eröffnete die Wirklichkeit der russischen Revolution ihre tiefe und untrennbare Verbindung mit der ganzen russischen Vergangenheit. Wie eine mächtige geologische Umwälzung hat sie die dünne Decke der obersten kulturellen Schichten abgeworfen und die lange unter ihnen verborgenen Schichten hervorgebracht (…). Lenin und Trotzki sind Pugatschow, Rasin, Bolotnikow, dem 18. und 17. Jahrhundert unserer Geschichte, viel näher als den letzten Ideen des europäischen Anarchosyndikalismus.“ Nur wer die Revolution für eine Auseinandersetzung um die beste aller Welten hält, wird den Sieg der Bolschewiki für ein Mysterium halten.

Hier gibt es eine sehr gute Dokumenation der ARD über die Oktoberrevolution und die Zeit davor und danach.

Die Bundeszentrale für politische Bildung nähert sich dem Thema eher wissenschaftlich und beantwortet viele wichtige Fragen zu Oktoberrevolution.

Und noch ein interessanter Ansatz: Nicht der Kommunismus, sondern die moderne Diktatur war die eigentliche Innovation, die aus der russischen Revolution hervorging. Ihr illiberales Erbe bedroht noch immer offene Gesellschaften.