Die Türkei weigert sich auch 100 Jahre nach dem Massaker an den Armeniern, zu ihrer historischen Verantwortung zu stehen. Nun hat Papst Franziskus I. türkische Verfolgung des Volkes als „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.
Armenische Flüchtlinge in einem Lager in Syrien
Der Papst redet „Unsinn“. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan findet deutliche Worte zu den Aussagen von Franziskus über den Völkermord an den Armeniern. „Ich möchte ihn dafür rügen und warnen“, fügte Erdogan an, solche Aussagen zu wiederholen. Den Staatschef ärgert die internationale Aufmerksamkeit zum hundertsten Jahrestag des Beginns der Massaker am 24. April 1915 – zumal sich Ankara weigert, die eigene Verantwortung an den Taten anzuerkennen.
Eine deutliche Sprache
Dabei sprechen die Dokumente jener Zeit eine deutliche Sprache. Da ist etwa jene Depesche aus Konstantinopel vom 7. Juli 1915: „Die Umstände und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigen, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten.“ Hans Freiherr von Wangenheim, damals deutscher Botschafter im Osmanischen Reich, war offensichtlich unsicher, wie er auf die ersten Deportationen und Massaker reagieren sollte. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg erstickte die Zweifel des Diplomaten im Keim: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber die Armenier zugrunde gehen oder nicht.“
Das deutsche Kaiserreich hätte Einflussmöglichkeiten gehabt
Damit schien das Schicksal des kleinen christlichen Volkes besiegelt. In Armenien wird diese Katastrophe „Aghet“ genannt – und als Völkermord bezeichnet. In der Türkei dagegen, dem Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, gilt das Leid offiziell noch immer als „kriegsbedingte Vertreibung und Sicherheitsmaßnahme“. Auch über die Opferzahlen wird gestritten. Zwischen 300 000 und 1,5 Millionen Menschen sollen ums Leben gekommen sein.
Das deutsche Kaiserreich war damals Bündnispartner der osmanischen Regierung und hätte die Möglichkeit gehabt, auf die Machthaber in Konstantinopel einzuwirken. Schon lange vor Beginn des Ersten Weltkrieges waren deutsche Offiziere am Bosporus, um das osmanische Heer zu modernisieren. Nach Ausbruch des Krieges gewannen diese Militärexperten weiter an Einfluss, zudem lieferte das Kaiserreich Waffen und Munition. Heute stellt sich die Frage, ob die Rolle Berlins über die stillschweigende Duldung des Massenmordes an den Armeniern hinausging. Unbestritten unter Historikern ist, dass die Deutschen in die Deportationen tiefer verstrickt waren als lange angenommen.
Der Beginn des Mordens
Der Beginn des Völkermordes wird auf den 24. April 1915 datiert. Damals ließ die Regierung in Konstantinopel armenische Intellektuelle und hohe Repräsentanten deportieren und ermorden. Doch schon zuvor war es zu Vertreibungen und Massakern gekommen. Nach militärischen Rückschlägen zu Beginn des Ersten Weltkrieges kam es vermehrt zu Bluttaten, da man den Armeniern Verrat vorwarf.
Im Anschluss an die ersten groß angelegten Deportationen wurden die Armenier in Richtung der syrischen Wüste getrieben. Die meisten Männer wurden noch vor den Deportationen verschleppt und ermordet. Die Vertriebenen wurden auf ihrem Weg nach Mesopotamien angegriffen, Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verschleppt. Hunger, Durst und Krankheiten ließen die Opferzahl steigen.
Die Weigerung der Türkei
Auch 100 Jahre nach dem Genozid weigert sich die Türkei, zu ihrer historischen Verantwortung zu stehen. Staatschef Recep Tayyip Erdogan beklagte jüngst eine Kampagne: Es werde versucht, mit „Völkermord“-Behauptungen Feindseligkeiten gegen die Türkei zu schüren. Es sei nicht richtig, im Zusammenhang mit den Gräueltaten von Genozid zu sprechen.
Erdogan will vermeiden, dass das Massaker zum 100. Jahrestag als Genozid anerkannt wird. Aus diesem Grund schlägt er vor, eine Historikerkommission einzuberufen. Das signalisiert Gesprächsbereitschaft und würde die Sache bis weit über den 24. April hinaus verschleppen. Wenn die Experten ihre Arbeit gemacht hätten, solle das Ergebnis den Politikern vorgelegt werden. Die Armenier halten Erdogans Idee einer Expertenkommission für Unsinn. In ihren Augen muss über die Tatsache des Völkermordes nicht mehr diskutiert werden.
Präsident Erdogan versucht vom Termin abzulenken
Damit am 24. April nicht die ganze Welt nach Eriwan blickt, wo die Feierlichkeiten zum Jahrestag stattfinden, hat sich Erdogan etwas einfallen lassen. Der Staatschef veranstaltet selbst ein Fest, zu dem er Dutzende Staatsgäste eingeladen hat. Allerdings wird nicht der Armenier gedacht, sondern der Schlacht von Gallipoli. Jener Auseinandersetzung, als die Türken im Ersten Weltkrieg den Angriff der Entente-Mächte (Großbritannien, Frankreich, Russland) an der Meerenge der Dardanellen zurückschlugen.
Eine spannende Gästeliste
Welche Repräsentanten zum Gallipoli-Jubiläum reisen, steht noch nicht fest. Spannender ist ein Blick auf die Gästeliste der Feierlichkeiten im armenischen Eriwan. Deutschland hat sich bisher zwar für die „unrühmliche Rolle“ des Kaiserreiches entschuldigt, vermeidet aber bis heute, von einem Völkermord an den Armeniern zu sprechen. Das bedeutet, dass keine hochrangige Delegation zum zentralen Gedenken reist. Frankreich hat sich anders entschieden. Geplant ist, dass Staatspräsident François Hollande an den Feierlichkeiten teilnimmt.
Zur Information:
Forderung: Der Zentralrat der Armenier in Deutschland hat von der Bundesregierung die Anerkennung des Völkermordes vor 100 Jahren im Osmanischen Reich gefordert. Ein solcher Schritt hätte eine positive Wirkung auf die türkische Gesellschaft und wäre mit keinerlei Rechtsansprüchen der Opfer gegenüber Deutschland verbunden, sagte die stellvertretende Vorsitzende Madlen Vartian.
Parlamente: Bislang haben den Angaben zufolge 22 Parlamente weltweit die Vernichtung der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich als Völkermord verurteilt, darunter die EU-Staaten Frankreich, Niederlande, Italien, Griechenland, Zypern, Slowakei, Schweden sowie das EU-Parlament und Papst Franziskus.